Börsen-Hype um E-Mobility Newcomer
Große Erwartungen, große Ankerinvestoren
Eine Frage drängt sich auf: Wie ist es möglich, dass ein absoluter Newcomer – noch dazu ohne bislang nennenswerte Produktion – so schnell in derart hohe Bewertungsbereiche steigt? Ein gewichtiger Faktor ist sicher, dass Rivian zwei Großinvestoren in der Hinterhand hat, die sowohl für finanzkräftigen Rückhalt sorgen als auch durch ihr starkes Engagement Vertrauen bei den Anlegern erzeugen.
Die Rede ist von Ford (hält aktuell 12 % der Rivian-Aktien) und Amazon (hält etwa 20 %). Amazon ist bereits seit 2019 in Rivian investiert und hat eine weitere wichtige Rolle für Rivian: der Onlinehänder ist gleichzeitig auch der größte Kunde des Autobauers. Bis 2030 sollen 100.000 Elektrolieferfahrzeuge, die Rivian gemeinsam mit Amazon entwickelt, produziert und ausgeliefert werden. Bis Ende 2022 sollen bereits die ersten 10.000 Fahrzeuge für Paketlieferungen zur Verfügung stehen. Daneben stützt sich die Geschäftsstrategie von Rivian auf die allgemeine Serienfahrzeugproduktion im E-Mobility-Sektor.
Marktlücke E-Pick-up
Das Alleinstellungsmerkmal des US-Autobauers liegt in der Konzentration auf einen ganz bestimmten Fahrzeugtyp: Rivian will mit seinem ersten Modell die Fahrzeugklasse der Kleinlaster mit offener oder abgedeckter Ladefläche – die sogenannten Pick-ups – erobern. Mit diesem Ziel vor Augen hat das Start-up mit Hauptsitz im kalifornischen Irvine den Pick-up-Truck R1T und das SUV R1S entwickelt. Hiermit visiert Rivian selbstbewusst den Massenmarkt der Zukunft an. Vor allem in den USA sind Pick-ups sehr beliebte Fahrzeuge. Im Jahr 2020 waren hier rund 20 % aller Neuzulassungen Pick-ups.
Der R1T von Rivian ist der erste Serien-Pick-up mit Elektroantrieb auf dem Markt. Seit September läuft die Produktion des E-Pick-ups im ehemaligen Mitsubishi-Werk im US-Staat Illinois. Der R1T hat eine Leistung von starken 800 PS, erzeugt durch vier Elektromotoren, einer für jedes Rad. Der R1T ist mit drei verschiedenen Batteriekapazitäten erhältlich, die eine Reichweite von etwa 400, 480 beziehungsweise 640 Kilometer ermöglichen sollen. Alle Batteriepakete sollen an einer Schnellladestation innerhalb von etwa 50 Minuten auf bis zu 80 % Kapazität geladen werden können.
Die erste Version des R1T kostet 75.000 USD. Daneben ist eine ausstattungstechnisch abgespeckte Basisversion in Planung, die für 67.500 USD auf den Markt kommen soll. Aktuell hat Rivian bereits 50.000 Vorbestellungen für den R1T in den Auftragsbüchern. Bei der zweiten Modellreihe, dem E-SUV R1S, sollen die ersten Auslieferungen von Fahrzeugen zum Jahreswechsel hin starten.
Ist Rivian das nächste Tesla?
In den Medien und Börsenforen werden viele Vergleiche zwischen Rivian und Tesla gezogen und in der Tat sind hier einige Gemeinsamkeiten zu verzeichnen: Beide Autobauer sind ausschließlich auf die Produktion von Elektrofahrzeugen konzentriert. Und beide flankieren diese Kernkompetenz mit anschließenden Plänen, eigene Batteriezellen entwickeln sowie eigene Ladeinfrastrukturen aufbauen zu wollen. Diese Geschäftsmodellnähe erzeugt daher sicher weiteres Futter für den Hype um Rivian.
Der Vergleich mit Tesla lässt bei den Anlegern vermutlich die Hoffnung entstehen, hier zu einem sehr frühen Zeitpunkt in eine ebenso steile Börsenkarriere einsteigen zu können, wie es beim Unternehmen von Elon Musk retrospektiv geglückt ist. Hinterher ist man schließlich immer schlauer. Bis jedoch aus dem komplexen Vorhaben von Rivian – und nichts anderes ist es ja zurzeit, das an der Börse bewertet wird – ein profitables Unternehmen wird, kann es auch im besten Fall noch einige Jahre dauern. Bei Tesla hat es zum Beispiel die Entwicklung bis zu einer stabilen Jahresproduktion von mehreren 100.000 Autos gebraucht, bis das Unternehmen nachhaltig in den Gewinnbereich gewachsen ist. Dies dürfte für Rivian noch in weiter Ferne liegen.
R. J. Scaringe, der CEO von Rivian, hat vor kurzem eine langfristige Produktionsprognose für sein Unternehmen bekanntgegeben: Bis zum Ende des Jahrzehnts soll Rivian eine Produktionskapazität von einer Million Autos pro Jahr erreichen. Von null auf eine Million in neun Jahren ist ein ambitioniertes Ziel, vor allem im Vergleich: Tesla liegt bei 14 Jahren, wenn es voraussichtlich nächstes Jahr die Millionenmarke knackt.
Riskante Rally mit offenem Ausgang
Wie bei vielen IPOs in diesem Jahr ist der anfängliche Hype eine Mischung aus hohen Erwartungen, einer offenbar übergreifend erhöhten Risikobereitschaft der Anleger sowie der Angst, eine einzigartige Gelegenheit zu verpassen – neudeutsch auch FOMO („Fear Of Missing Out“). Insgesamt ist das Thema E-Mobilität eh schon stark befeuert, die Nähe zu Börsenstar Tesla/Musk und das großflächige Engagement seitens Amazon bei Rivian lassen die Erwartungen – und damit den Aktienkurs – weiter steigen.
Auf der anderen Seite wird hier ein Unternehmen mit einem schwankenden Wert um die 100 Mrd. USD beziffert, welches in der ersten Jahreshälfte noch keinen Cent Umsatz, wohl aber 100 Mrd. USD Verlust zu verzeichnen hat. Und dabei steht noch in den Sternen, ob und in welcher Produktivität Rivian den hochgradig komplexen Schritt von Entwicklung und Prototypenbau in die Massenproduktion mit all ihren Implikationen – allein das Lieferketten-Management im Automobilsektor ist ein Thema für sich – meistern wird.
Dass der Börsenneuling schon jetzt weit höher bewertet ist als viele etablierte Konzerne der Automobilindustrie, sollte zumindest zu Vorsicht mahnen. Denn eins ist sicher: auch die großen Autobauer werden in Zukunft mehr und mehr auf Elektrofahrzeuge setzen und damit sukzessive den Konkurrenzdruck erhöhen. Und das innerhalb von gewachsenen Prozessstrukturen und Produktionskapazitäten, die beim Start-up Rivian bislang nur auf dem Reißbrett bestehen.
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